DIE DUNKLEN WOLKEN DES KRIEGES

Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie Triannas Zelt gefunden hatten, das offenbar als inoffizielles Hauptquartier der Du Vrangr Gata diente. Nur wenige Leute wussten davon und noch weniger konnten ihnen den Weg dorthin weisen. Es stand hinter einem Felsen verborgen, um vor den Blicken der feindlichen Magier in Galbatorix’ Streitmacht geschützt zu sein.
Als Eragon und Saphira gerade auf das schwarze Zelt zugingen, wurde die Plane beiseite gezogen und Trianna trat heraus. Sie hatte die Ärmel hochgekrempelt und war im Begriff, einen Zauber zu wirken. Ihr folgte eine Gruppe von entschlossenen, jedoch etwas nervös wirkenden Magiern, von denen Eragon viele während der Schlacht in Farthen Dûr gesehen hatte, entweder im Kampf oder beim Heilen der Verwundeten.
Der Trupp reagierte mit der üblichen Überraschung auf sein verändertes Aussehen. Trianna ließ die Arme sinken und sagte: »Schattentöter! Saphira! Ihr hättet uns früher über eure Ankunft informieren sollen. Wir stecken mitten in den Vorbereitungen für die Schlacht.«
»Euch zu verärgern, war nicht meine Absicht«, sagte Eragon, »aber nach der Landung mussten wir uns als Erstes bei Nasuada und König Orrin melden.«
»Und warum beehrst du uns jetzt mit deinem Besuch? Du hast uns doch bisher nie aufgesucht, obwohl wir dir von allen Varden eigentlich am nächsten stehen sollten.«
»Ich bin gekommen, um die Du Vrangr Gata unter meinen Befehl zu stellen.« Die versammelten Magier brachen in überraschtes Gemurmel aus und Trianna erstarrte. Eragon spürte, wie mehrere der Zauberkundigen in sein Bewusstsein einzudringen versuchten, um seine wahren Absichten zu erforschen. Statt sich abzuschirmen - was ihn für einen drohenden Angriff blind gemacht hätte -, revanchierte sich Eragon, indem er dem Geist der unbeholfenen Invasoren einen Stoß versetzte, sodass sie sich rasch hinter ihre Schutzschilde zurückzogen. Dabei sah Eragon mit Vergnügen, dass zwei Männer und eine Frau zusammenzuckten und betreten den Blick senkten.
»Auf wessen Anordnung?«, wollte Trianna wissen.
»Auf Nasuadas.«
»Aha«, sagte die Magierin mit triumphierendem Lächeln. »Aber Nasuada hat keine direkte Befehlsgewalt über uns. Wir helfen ihr und den Varden aus freien Stücken.«
Dass sie sich widersetzte, erstaunte Eragon. »Ich bin mir sicher, Nasuada wäre überrascht, dies zu hören, nach allem, was sie und ihr Vater für die Du Vrangr Gata getan haben. Sie könnte den Eindruck gewinnen, dass ihr in Zukunft auf den Schutz und die Unterstützung der Varden verzichten wollt.« Er ließ die unausgesprochene Drohung einen Moment lang wirken. »Außerdem wolltet ihr mir den Posten ohnehin geben. Warum dieser Sinneswandel?«
Trianna hob eine Augenbraue. »Du hast mein Angebot ausgeschlagen, Schattentöter, schon vergessen?« Beherrscht, wie sie war, schwang in ihrer Stimme dennoch ein Anflug von Trotz mit, und Eragon hatte das Gefühl, dass sie genau wusste, wie unhaltbar ihre Position war. Sie kam ihm älter vor als bei ihrer letzten Begegnung, und er musste sich ins Gedächtnis rufen, welch schwere Zeiten sie inzwischen hinter sich hatte: Sie war durchs Beor-Gebirge nach Surda gezogen, musste die Magier der Du Vrangr Gata beaufsichtigen und sich auf einen Krieg vorbereiten.
»Damals konnten wir das Angebot nicht annehmen. Es war der falsche Zeitpunkt.«
Plötzlich änderte sie ihre Strategie und sagte: »Warum ist Nasuada überhaupt der Meinung, dass du uns befehligen sollst? Du und Saphira, ihr seid doch andernorts von viel größerem Nutzen.«
»Nasuada möchte, dass ich die Du Vrangr Gata in die Schlacht führe, also werde ich es tun.« Dass es eigentlich seine Idee gewesen war, behielt er lieber für sich.
Triannas finsterer Blick verlieh ihr ein unheimliches Aussehen. Sie deutete auf die Magier hinter sich. »Wir alle hier haben unser Leben dem Studium der magischen Künste geweiht. Du dagegen kannst erst seit ein paar Monaten Zauber wirken. Warum solltest du für diese Aufgabe also qualifizierter sein als wir? - Wie auch immer, verrate mir deine Strategie! Wie gedenkst du, uns einzusetzen?«
»Mein Plan ist ganz einfach«, sagte er. »Ihr werdet euren Geist vereinen und nach feindlichen Magiern suchen. Wenn ihr einen findet, werde ich euch mit meiner Kraft unterstützen, und wir werden seinen Widerstand gemeinsam brechen. Dann können wir die Soldaten angreifen, die bis dahin von Zaubern geschützt waren.«
»Und was tust du die übrige Zeit?«
»An Saphiras Seite kämpfen.«
Nach einer kurzen Pause sagte einer der Männer hinter Trianna: »Das ist ein guter Plan.« Er zuckte zusammen, als sie ihn wütend anfunkelte.
Dann richtete sie den Blick wieder auf Eragon. »Seit dem Tod der Zwillinge habe ich die Du Vrangr Gata angeführt. Unter meiner Leitung haben wir die Mittel erwirtschaftet, mit denen die Varden diesen Krieg finanzieren. Wir haben die Schwarze Hand ausgeschaltet, eine Gruppe von Spionen, die in Galbatorix’ Auftrag Nasuada umbringen sollten. Und wir haben zahllose andere Dienste erbracht. Ich denke, es ist keine Prahlerei zu behaupten, dass wir bemerkenswerte Arbeit geleistet haben. Und ich bin mir sicher, dass ich auch weiterhin gute Arbeit verrichten werde. Warum in aller Welt will Nasuada mich plötzlich absetzen? Habe ich sie in irgendeiner Weise verärgert?«
Da wurde Eragon alles klar. Sie hat sich an die Macht gewöhnt und möchte sie nun nicht mehr hergeben. Und nicht nur das, sie fasst es als Kritik an ihrer Führung auf, dass ich sie ablösen soll.
Du musst diesen Konflikt lösen, Eragon, und zwar schnell, meldete sich Saphira. Die Zeit wird langsam knapp.
Eragon zermarterte sich das Hirn nach einer Möglichkeit, die Du Vrangr Gata zu übernehmen, ohne Trianna noch mehr zu brüskieren. Schließlich sagte er: »Ich bin nicht gekommen, um Ärger zu machen. Ich möchte euch vielmehr um Hilfe bitten.« Er sprach jetzt zu allen, sah aber nur die Zauberin an. »Ich bin stark, ja. Wahrscheinlich könnten Saphira und ich es mit allen Magiern aufnehmen, die Galbatorix in die Schlacht werfen wird. Aber die Varden können wir nicht auch noch beschützen. Wir können nicht überall sein! Und falls die Magier des Imperiums ihre Kräfte gegen uns vereinen, wird es selbst für uns schwer werden... Wir können diese Schlacht nicht allein ausfechten. Du hast völlig Recht, Trianna: Du hast die Du Vrangr Gata hervorragend geführt, und ich bin nicht hier, um deine Autorität infrage zu stellen. Es ist nur, dass ich als Zauberkundiger mit euch zusammenarbeiten muss, und als Reiter werde ich euch Befehle erteilen müssen, die ihr ohne Widerspruch zu befolgen habt. Die Befehlskette muss stehen! Trotzdem werdet ihr weitgehend eigenständig arbeiten. Die meiste Zeit werde ich viel zu beschäftigt sein, um mich um euch zu kümmern. Auch werde ich euren Rat keinesfalls in den Wind schlagen, denn mir ist bewusst, dass ihr viel erfahrener seid als ich... Also, ich bitte euch noch einmal: Werdet ihr mir helfen, zum Wohle der Varden?«
Trianna überlegte kurz, dann verneigte sie sich. »Natürlich, Schattentöter - zum Wohle der Varden. Es ist uns eine Ehre, dich zum Anführer zu haben.«
»Dann lasst uns anfangen.«
In den nächsten Stunden sprach Eragon mit jedem Einzelnen der versammelten Zauberkundigen, wenngleich einige abwesend waren, da sie bestimmte Aufgaben an anderen Punkten des Lagers übernommen hatten. Er tat sein Bestes, sich mit ihrem Kenntnisstand der Magie vertraut zu machen, und stellte fest, dass die Mehrzahl der Männer und Frauen in der Du Vrangr Gata von einem Verwandten in die Magie eingeführt worden war, und zwar in absoluter Heimlichkeit, um nicht die Aufmerksamkeit der Nachbarn - oder des tyrannischen Königs - zu erregen. Nur eine Hand voll von ihnen hatte eine richtige Ausbildung erhalten. Die Folge war, dass die meisten Mitglieder der Gruppe nur wenig über die alte Sprache wussten; fließend sprechen konnte sie keiner von ihnen. Ihre Ansichten über Magie waren oft von einem religiösen Aberglauben verzerrt. Viele Anwendungen der Gramarye kannten sie überhaupt nicht.
Kein Wunder, dass die Zwillinge dir unbedingt dein Vokabular in der alten Sprache entlocken wollten, als sie dich in Farthen Dûr auf die Probe gestellt haben, sagte Saphira. Damit wären sie den anderen Magiern haushoch überlegen gewesen.
Aber es sind nun mal die einzigen Zauberkundigen, mit deren Hilfe wir operieren können!
Stimmt. Ich hoffe, du siehst jetzt, dass ich Recht hatte, als ich dich damals vor Trianna gewarnt habe. Sie stellt ihre eigenen Wünsche über das Wohl der Allgemeinheit.
Ja, du hattest Recht, pflichtete er ihr bei. Aber ich verurteile sie deshalb nicht. Trianna geht so mit der Welt um, wie sie es am besten kann - wie wir alle. Ich verstehe ihr Verhalten, auch wenn ich es nicht gutheiße. Aber Verständnis erzeugt Nachsicht und Mitgefühl, wie Oromis einmal gesagt hat.
Um eine bessere Vorstellung von ihren tatsächlichen Fähigkeiten zu bekommen, ließ Eragon sie eine Reihe von Zaubern wirken. Während er zusah, wie sie sich mit Dingen abmühten, die er inzwischen mit Leichtigkeit beherrschte, wurde Eragon erst so richtig bewusst, wie sehr er selbst sich weiterentwickelt hatte. Zu Saphira sagte er: Wenn ich mir vorstelle, wie schwer es mir einmal gefallen ist, einen Kieselstein in die Luft steigen zu lassen...
Und wenn ich mir vorstelle, gab sie zurück, dass Galbatorix mehr als ein Jahrhundert Zeit hatte, seine schwarze Kunst zu vervollkommnen...
Etwas mehr als ein Drittel der Magier war auf Heilung spezialisiert. Eragon schickte sie fort, aber erst nachdem er ihnen noch fünf neue Zaubersprüche beigebracht hatte, mit denen sie eine größere Bandbreite an Verletzungen behandeln konnten. Mit den übrigen erarbeitete Eragon eine klare Befehlskette. Er ernannte Trianna zu seiner Stellvertreterin und ließ sie schwören, dass sie seine Befehle ausführen werde. Dann machte er sich daran, die unterschiedlichen Persönlichkeiten zu einer potenten Einheit zu verschmelzen. Dabei musste er feststellen, dass es fast genauso mühselig war, Magier zur Zusammenarbeit zu bewegen, wie unter einem Hunderudel einen Fleischknochen aufzuteilen. Es half ihm auch nicht weiter, dass sie vor ihm in Ehrfurcht erstarrten, denn er fand kaum eine Möglichkeit, die Konkurrenzsituation unter ihnen zu entspannen.
Die Sonne hing tief im Westen und verstärkte das satte rote Licht, bis das Vardenlager, der Jiet-Strom und die gesamten brennenden Steppen in einem unwirklichen, marmorierten Glanz erstrahlten, wie im Fiebertraum eines Irren. Die Sonne stand höchstens einen Fingerbreit überm Horizont, als ein Läufer mit einer Botschaft zu Eragon trat: Nasuada wünsche ihn unverzüglich zu sehen. »Ich glaube, Ihr solltet Euch beeilen, Schattentöter, wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt.«
Nachdem er sich von den Du Vrangr Gata hatte versprechen lassen, dass sie sich bereithalten und kommen würden, wenn er ihre Hilfe benötigte, eilten Eragon und Saphira durch die Zeltreihen zu Nasuadas Pavillon. Der ohrenbetäubende Lärm über ihnen ließ Eragon vom trügerischen Boden zum Himmel aufschauen.
Dort erblickte er einen riesigen Vogelschwarm über dem Niemandsland zwischen den beiden Armeen. Er sah Adler, Habichte und Falken, dazu zahllose gierige Krähen und ihre größeren, räuberischen Vettern, die Raben, mit ihren dolchartigen Schnäbeln und dem blauschwarzen Gefieder. Sie kreischten um die Wette, nach Blut, die Kehle zu benetzen, und heißem Fleisch, den leeren Bauch zu füllen und den Hunger zu stillen. Sie wussten instinktiv, dass ein bluttriefender Leichenschmaus auf sie wartete, wann immer in Alagaësia Armeen aufmarschierten.
Die dunklen Wolken des Krieges brauen sich zusammen, stellte Eragon schaudernd fest.

 

 

Der Auftrag des Aeltesten
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